Time will explain it all. He is a talker,
and needs no questioning before he speaks.
Euripides


Die Hauptfigur in Michael Endes Buch, Momo, ein armes Waisenkind, das in einem Amphitheater am Rande einer Großstadt lebt, beschreibt der deutsche Autor als letzte Überlebende einer Gesellschaft, in der die Menschen sich noch am Geschmack der Zeit erfreuen können. Das Kind ist Zeuge eines Prozesses, in dessen Verlauf die kapitalistische Denkweise, deren Logik auf Prinzipien von Effizienz und Wertansammlung ba siert, langsam eine Haltung ersetzt, die auf der Freude am Spiel und am Erzählen gründet. Wie die Dinge stehen, ist Endes Buch eine Prophezeiung unserer gegenwärtigen Geschichte, deren wissenschaftlicher, die Relativität unterstützender Ansatz sein Gegenstück in einer anderen Art von Relativität findet, die vergangene Momente in verbrauchtem Kapital bemisst, eine Verbindung zwischen Zeit und Geld. Aber, da das Buch letzten Endes für ein Happy End argumentiert, indem Momo die gestohlenen Stundenlilien befreit und sie an ihre eigentlichen Besitzer zurückgibt, wandelt sich hier Endes Geschichte in ein Spiel befreiter Identitäten, die Ihren Weg heraus aus der Unwissenheit finden, um die Gabe, ins eigene Herz schauen zu können, zurück zu gewinnen.
Die Versuchung ist groß, sich Momo als Prototyp des Künstlers zu denken:
eine erfinderische Person mit einfallsreichem Denken die sich durch die große Kraft des Zuhören- und Verstehen-Könnens in die Gesellschaft einbringt, sich auf die Seite der Unterpriviligierten stellt - ein Maurer, eine Wirtin, ein Strassenkehrer, eine Fremdenführerin - jemand der (glaubhaft) Szenarien schafft, deren Möglichkeit Alternativen zur Realität werden. Aber, wenn diese Annahme wahr ist, sollten wir uns dann den Künstler als denjenigen vorstellen, der die besten Voraussetzungen hat, uns durch das Wiederfinden der verlorenen (oder gestohlenen) Zeit zu uns selbst zurück zu bringen?
Eine Betrachtung der Arbeiten Tatjana Fells, die im Rahmen der Ausstellung Auf dem Boden der Zeit entstanden sind, gibt Gelegenheit, diese Gedanken auf die Probe zu stellen. Oder besser gesagt, da sich der Kreis der Interpretation in Spiralen bewegt: bei der Betrachtung dieser Arbeiten konstituiert sich eine Gelegenheit, sich an eine Geschichte von Unschuld zu erinnern, in der sich der Lebenswert einer Ästhetik der Zeit repräsentiert, in einer Reise vom Außen der Lebenswelt in das innere des Herzens, welches sich in künstlerischer Weise offenbart; um zurück zu kehren zu den Reflektionen der Künstlerin selbst und diese in ein neues Licht zu setzten.
Es stellt sich heraus, dass Tatjana Fell eine Aufgabe gewählt hatte, die die einfachste und doch gleichzeitig die schwierigste ist. Ein Hinweis auf diese Schwierigkeit kann man bereits in den Bekenntnissen des Hl. Augustinus finden; der christliche Philosoph erklärt sein eigenes Unvermögen, indem er die Frage nach der Natur der Zeit stellt und dabei die befragte Person in die paradoxe Position bringt, gleichzeitig antworten zu können, aber keine Antwort zu haben: Wenn man mich fragt, was Zeit sei, kann ich nicht antworten; wenn man mich aber nicht fragt, kann ich möglicherweise eine Antwort geben. Oder - wenn ich diese Argumentation weiterführen darf - wenn niemand fragt, was Zeit ist, dann könnte jemand ihre Natur aufzeigen. Die Ontologie ist eine der Zeichen und Symbole.
Ein erster Schritt in den Galerieraum, und man kommt nicht umhin, ein Verweigern grammatischer Kohärenz zu bemerken, ein Argwohn gegenüber der Konstruktion eines Diskurses. Es ist, als sei zu befürchten, die Sprache könnte sich gegen den Ursprung ihres eigenen Seins auflehnen - gegen das sich äußernde Subjekt, die Künstlerin selbst. Denn Sprache beansprucht ihre Autonomie, sobald sie in der Welt ist. Stattdessen entscheidet sich die Künstlerin für den Mittelweg zwischen dem Beantworten dieser ontologischen Frage und der Beschränkung auf blo - ße Zeichen; daher fließen Worte über die Wand, als Bilder verdinglicht.
Durch diesen Prozess der Verdinglichung werden sie zu Objekten fiktiver Fallstudien für jede andere menschliche Erfahrung.
Die Künstlerin zeigt, deutet an, entwirft Text-Bilder ihres eigenen Begriffssystems, die sich, von einer Seite zur anderen, in einer Passage von Materie und Zeit, an der Wand links materialisieren, in Erscheinung treten und verschwinden, so wie sie gekommen waren. Im narrativen Kontext, der bereits durch Kunstraum und Kunstwerk festgelegt ist, verlieren diese Worte ihren Ursprung und werden zu Beispielen dafür, was Mikhail Bakhtin Heteroglossia nannte, die Vielstimmigkeit der Sprache, eine Virtualität von Worten, geäußert von einer unendlichen Anzahl von Wesenheiten, heraus aus den Bereichen der Gesellschaft, ungeachtet ihres Status: perpetual shifting - continuous space - building timeframes - setting limits - living within borders - now - then - yesterday - tomorrow - never-ever - yet - lost in the flow - falling - drowning - dissolving - scanning - locating - navigating - making decisions - creating time - living in time - yet.Worte zur Erinnerung.
Aber was hier nur als unbewusstes Wissen verpackt scheint, entfaltet sich weiter und unverhüllt. Eine lebendige Skulptur aus einer Vielzahl von Stimmen, die aus Fäden und Drähten gemeinschaftliche Strukturen schafft. Menschen sitzen und sprechen miteinander, haben sie erst einmal zugestimmt, das Spiel zu spielen. Denn hier ist Arbeit von ihrer sozialen Notwendigkeit befreit und in ihr Gegenteil verkehrt, welches sich als Freizeit konfiguriert, die nicht in derselben Weise zu verschwenden ist, wie die gestohlene Zeit zum Maßstab für Effizienz wird, sondern als Bereitschaft, sie den anderen zu überlassen. Vom Bakhtin`schen Standpunkt aus gesehen könnte dies der einzige Ort sein, an dem solch eine Art Karneval stattfinden könnte - ein Karneval, ein Fest, eine gemeinschaftliche Explosion der Freude, eine Flucht vor der Normalität, eine Transfiguration des Gewöhnlichen. Der Kern dieser Arbeit liegt in einem Spiel der Imagination mit ihren eigenen Möglichkeiten, ergänzt um den Willen, sich dem anderen anzunähern mit dem Geringsten, das man zu bieten hat. Was die Künstlerin hier anstrebt, ist kein Experiment, sondern eine Übung in Vertrauen auf den hermeneutischen Zirkel - was steht schon auf dem Spiel - das Verständnis für den anderen, um sich selbst besser verstehen zu können. Es existiert keine Teleologie hier, so wie es auch keine endgültige Form für das gestrickte Nest gibt. Zeit wird zu einem Bezugssystem, einem Hintergrund der darauf wartet, dass sich Menschen dieser Arbeit und jenem Rest nähern, der in Vergessenheit gerät, während das Stricken zur Freude Freude an der gemeinsamen Begegnung wird.
Und schließlich ist da das verlassene Amphitheater. Eine verwaiste Szenerie - die Akteure sind gegangen, oder, um mit Tatjana Fell zu sprechen, ein offenes Atelier, in dem der Künstler fehlt. Die kleine Momo verließ das Amphitheater für Tage, Jahre, Ewigkeiten, um zum Nirgendwo-Haus zu reisen - vom logischen Standpunkt aus betrachtet hat das Nirgendwo die gleichen Chancen, plötzlich zu seiner Existenz hindurch zu brechen, wie das Überall - wo sie schließlich auf Meister Secundus Minutius Hora treffen würde - aber das ist nur eine weitere Me ta pher für ein signifikantes Eintauchen in die Leere der Zeit, welches immer auch eine Konfrontation mit der eigenen Subjektivität ist. Auf die
gleiche Weise ist die Künstlerin gegangen, Tatjana Fell hat den Ort verlassen und ihre einzigen zurückgelassenen Spuren sind Fragmente eines früheren Lebens, die sich Moment für Moment in künstlerischen Arbeiten manifestieren. Ein Menschenleben, ein Künstlerleben als ein Maßstab für Zeit: eine Rakete, die abgefeuert unmittelbar darauf explodiert - das Bild eines Atemzugs als Tropfen im galaktischen Ozean; eine unendlich wiederholte Geste des Bedeckens und Enthüllens eines Frauengesichtes mit Hilfe eines endlosen Fadens - eine gleichförmige Be we gung wie ein stetes Vorübergleiten, der gleiche Takt, das Gleiche Maß der Fortbewegung, im Gegensatz zu der Hektik, in der wir leben, Voraussetzung für eine exotische Philosophie des Losgelöstseins und eine Übung in Weisheit [sagesse], der Fähigkeit zu begreifen, dass alles kommt und geht und nichts jemals bleibt, oder mit anderen Worten, eine Strategie sich abzusichern; ein Fernsehprogramm ohne Übertragung, oder besser gesagt, das Fehlen vorgefertigter Bilder ist die eigentliche Übertragung, oder noch besser, eine Brown`sche Bewegung winzigster Einheiten, im Zufall sich kreuzende ahnen, eine Berührung von Existenzen, die sich in einer niemals endenden Bewegung begrüssen, ein Weg zu einem Denken über Zeit für mikroskopische Imperien, die wir niemals sehen können. Die Zeit hat dieses Atelier gezeichnet und es in klinischer Ordnung hinterlassen, alles an seinem Platz, aber da diese Arbeit der Zeit erlaubt, über sich selbst zu sprechen, gewährt sie uns im Gegenzug den Wert einer langlebigen künstlerischen Aussage.
Die alten Griechen dachten, dass sich jedes Objekt auf seinen eigenen Raum zubewegt und dadurch Bewegung überhaupt erst möglich sei.
Jenseits dessen bleibt die Frage nach den Möglichkeiten von Zeit weiter bestehen. In Ermangelung eines Eigenlebens, das sie uns zeigen könnte, spricht Zeit durch die Stimme derer, die sie finden und hören. Die Arbeiten Tatjana
Fells sind mit den Narben der Zeit zurückgelassen worden. Wir sind am Zug.

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